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WENN WIR GESCHICHTE UND KULTUR RIECHEN KÖNNEN…

Der “Kriegsveteran” Mustafa Gazi ist Kult auf der Istiklal Caddesi.


…dann befinden wir uns auf der Istiklal Caddesi in Istanbul, Türkei. Allein am Wochenende drängen sich drei Millionen Menschen auf drei Kilometer Kultur, Geschichte und Abenteuer. Dreimillionenundeins wurden es, als auch FREIHAFEN dem fesselnden Geruch folgte.

“Lasst mich los! Ich muss dringend mit Lenin sprechen – sofort!“, schreit ein älterer Herr nach seinem Sturmversuch auf das russische Konsulat in Istanbul, während ihn die Wärter und Polizisten abführen. Wild um sich schlagend und weiterhin unbeirrt behauptet er, Lenins Cousin zu sein. Nur befindet sich Lenin leider gar nicht im Konsulat und ist außerdem schon lange tot. So fährt der Streifenwagen mit dem sehr enttäuschten Herren davon und die Zurückbleibenden haben etwas zum Lachen – „wieder ein Mal“, sagen die Wärter des Konsulats. Denn solche Aktionen und Gestalten sind keine Seltenheit auf der Istiklal Caddesi, der wohl aufregendsten und buntesten Straße Istanbuls.

Schon immer zog die Istiklal Caddesi Künstler, Intellektuelle, Abenteurer und Charaktermenschen aus aller Welt an. Im 19. Jahrhundert nannten Europäer Istanbul Paris des Ostens und die Istiklal Caddesi Grand Rue de Péra. Auch heute lockt die Stadt, und speziell die Istiklal Caddesi, durch ihre Mischung aus Orient und Westen, Kultur, Abenteuer und Geschichte.

Da ist zum Beispiel Mustafa Gazi, ein auffälliger und viel zu junger Istiklal-Kriegsveteran mit einer Rose an der Brust. Bei Wind und Wetter steht er auf der Istiklal Caddesi und lässt sich von neugierigen Touristen fotografieren. Verständlich bei den vielen Medaillen, die er auf seiner Uniform trägt. Bei genauerer Betrachtung fällt dann aber auf, dass die Medaillen allesamt eigentlich nur bunte Buttons sind, seine Uniform die eines Busfahrers und die Krawatte zu den städtischen Metro-Angestellten gehört. Trotzdem hören sich jeden Tag zahlreiche Touristen seine Kriegsgeschichten an. „Es war ein harter Kampf. Wir waren ständig im Einsatz – Tag und Nacht“, erzählt Mustafa Gazi vom Istiklal-Krieg und freut sich über die Anerkennung. Von der Istiklal Straße ist er mittlerweile kaum wegzudenken.

Genauso wie ein Besuch bei einem der vielen alten Eisläden, die das weltberühmte Maras-Eis verkaufen. Der 36-jährige osmanisch gekleidete Ali verkauft das gummiartige Eis nun schon seit 25 Jahren. Geschickt und kunstvoll macht er jeden Eiskauf zu einer Unterhaltungs-Show. So sehen einem nicht selten zwanzig Passanten beim Eiskauf zu, wenn Ali das Eis zu einer langen Schlange zieht, durch die Luft wirbelt, auf die Waffel klatscht und sie dem Käufer hinhält – mal mit und mal ohne Eis, wieder verschwinden und den Käufer verdutzt dastehen lässt. Nach fünf Minuten hat der Hungrige seine Waffel mit Eis in der Hand und kann es nicht wirklich glauben. Die Zuschauer klatschen und ziehen weiter zur nächsten Attraktion:
Hier spielen Straßenmusikanten klassische türkische Musik mi
t Instrumenten aus allen Ecken der Welt, dort hält ein Mann eine Rede und wieder woanders werden mitten auf der Straße Theaterstücke aufgeführt. Etwas weiter lauscht eine Menschentraube dem melancholischen Spiel eines Puppenspielers und auf dem Boden vor einem indischen Laden malt ein Kreidekünstler.

Männer vor einem Cafe in einer Seitengasse der Istiklal Caddesi.

Inzwischen ist es früher Abend, die vielen kleinen Läden umrahmt von verzierten Gemäuern tauchen in ein warmes Rot. Zwei junge Studenten sitzen an einem Tisch vor einem Seitengassen-Cafè. Sie lauschen der Musik eines Ney-Spielers, trinken schwarzen Tee und spielen Tavla, ein traditionell türkisches Brettspiel. Das tun hier alle, von jung bis alt. Dabei gestikulieren sie wild, lachen und scherzen. So auch der Student Orkun und die Studentin Tutku. Jede Woche treffen sie sich hier und immer öfter besiegt Tutku ihren männlichen Kommilitonen in diesem typischen Männerspiel. Auf die Frage, warum sie ausgerechnet auf der Istiklal Caddesi spielen, antworten sie: „Hier ist es so lebendig und fröhlich. Die vielen unterschiedlichen Menschen, denen wir hier begegnen! Und außerdem: Es riecht hier so schön – nach Geschichte und Kultur.“
„Es riecht nach Geschichte“ – das sagt man so im Türkischen.

Die jahrhundertealten Gebäude, die Tränen des Lenin-Fans, Mustafa Gazis Ansteckrose, das Maras-Eis, der Tee, die Kreide, das Holz der Instrumente und die Menschen. Ich schließe die Augen – und tatsächlich: Jetzt rieche ich es auch.


veröffentlicht 2007 im FREIHAFEN, Ausgabe “Luxus”, Download hier
Englisch auf Today’s Zaman

Bild 1: Nilgunerzik;Bild 2: Robino; Bild 3: Nermz; Bild 4: privat

journalist, columnist and author of this blog. a turkish-german muslim juggling politics, feminism, cyberculture and life between germany, istanbul, oxford & the world.

Comments

  • April 30, 2009
    reply

    Eva

    Oj, ein toller Text – macht Lust auf Istanbul!

  • April 30, 2009
    reply

    :) den hab ich damals gelesen als der freihafen aktuell war. auf englisch wars sicher eine gute referenz für deine erfolgreiche bewerbung, oder? ;)

  • April 30, 2009
    reply

    @eva: Dankeschön! Istanbul ist unbedingt sehenswert! :) (Pseudo-Urlaub)

    @lukas: Ja, ich erinnere mich :) Ich hatte ihn dir damals vorab zum Lesen gegeben. Für die letzte Bewerbung hab ihn auf Englisch aber nicht gebraucht – für emel hingegen schon. :)

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